
Das Plattenlabel “Sun Records” gilt als Wiege und Ursprung des Rockabilly und Rock’n’Roll. Wir tauchen in die Entstehung der schwungvollen Mischung aus Rhythm & Blues und Country ein.
Die Nachkriegsjahre waren auch für die Musik eine Zeit der Veränderung. Die musikalische “Colorline” zwischen Schwarzen und Weissen, die besonders im Süden der USA vorherrschte, begann sich allmählich aufzulösen. Eine wichtige Rolle spielte dabei Sam Philipps, der seit 1945 als Radiomoderator im bluesverrückten Memphis tätig war und später das Label “Sun Records” gründete.
Philipps liebte den schwarzen Rhythm & Blues-Sound. Ihm war es ein Anliegen, diese Musik noch stärker unter die Leute zu bringen und einem breiteren, auch weissen Publikum bekannter zu machen. 1950 eröffnete Sam Phillips mit “Memphis Recording Service” ganz in der Nähe der bekannten Beale Street, der Heimat des Blues, ein Aufnahmestudio. Zwei Jahre später folgte die Gründung des eigenen Labels “Sun Records”. Die Studios standen allen Musikern offen. Als Logo für Sun Records wählte Phillips einen krähenden Hahn mit der aufgehenden Sonne im Hintergrund. Mit jedem neuen Tag kann etwas Neues und Innovatives entstehen, so die Botschaft.
Schwarze R&B-Musiker prägen die Anfangsjahre
In den Anfängen arbeitete der passionierte Bluesliebhaber Phillips vor allem mit schwarzen Musikern zusammen: So brachte Sun Records im April 1952 die erste Platte mit Aufnahmen von Johnny London heraus, es folgten Aufnahmen unter anderem mit Willie Nix und Thomas Rufus Junior. Bereits vor der Gründung von Sun Records produzierte Philipps schwarze Musiker wie beispielsweise B.B. King oder Ike Turner. Turners 1951 von Sam Phillips produzierter Song “Rocket 88” gilt als einer der ersten Rock’n’Roll–Aufnahmen überhaupt.
Elvis Presley schlägt die Brücke
Es war ein offenes Geheimnis, dass viele junge Weisse – sei es aus Rebellion oder aus echtem Interesse an der Musik – heimlich in ihren stillen Kämmerlein schwarzen Blues hörten. Kräftige Stimmen, bluesige Gitarrenriffs und Kontrabass-Rhythmen, die in die Beine und Hüften fahren. Phillips wusste zu genau, dass es für diesen Sound einen grösseren Markt gab.

Elvis Presley und B.B. King auf einer Backstage-Aufnahme von 1956 in Memphis. In der Mitte die Sängerin Claudia Ivy
Doch die entscheidende Frage war, wie der schwarze Rhythm & Blues-Sound die “Colorline” effektiv durchbrechen könnte und die Musik letztlich auch besser verkauft werden könnte.
Die Antwort auf diese Frage lief im August 1953 ins Sun-Tonstudio: Ein junger LKW-Fahrer namens Elvis Presley wollte Aufnahme für private Zwecke machen. Sam Phillips war von seiner Stimme und von seinem Stil, am R&B angelehnt, begeistert und arrangierte daraufhin Aufnahmen. Unter anderem wurde das Lied “That’s All Right, Mama” des schwarzen Blues-Sängers Arthur Crudup eingespielt – der Song kam 1954 heraus begeisterte die Radiostationen. Elvis sorgte für Aufsehen. Die musikalische “Colorline”, so der Rock-Kenner Jan Donkers, wurde formell durchbrochen. Ein neues Zeitalter brach an: Zahlreiche weisse Musiker begannen nun schwarze R&B-Musik zu spielen. Oft in einer neuen, eigenen Form und vermischt mit Country-Elementen. Der typische Rockabilly-Sound war geboren und die Brücke zwischen Country und Blues geschlagen.
Johnny Cash: Country-Seite des Rockabilly
Im Sommer 1954 liess sich Johnny Cash nach seiner Entlassung aus der Army in Memphis nieder. Cash wollte Musiker werden. Doch soweit war es noch nicht. Tagsüber arbeitete er als Haushaltswarenvertreter und ging seiner Leidenschaft, der Musik, nur in seiner Freizeit nach. Er schrieb eigene Songs, liebte Country und Gospel, und ähnlich wie Elvis begeisterte auch er sich für den Blues. In Memphis lernte er den Bluesmusiker Gus Cannon kennen. “Ich fuhr gerne nach Orange Mound, das schwarze Stadtviertel, um auf Gus Cannons Veranda zu sitzen und ihm beim Singen und Gitarrenspielen zuzuhören”, schrieb Johnny Cash in seiner Autobiographie “Cash” (1999). “Ich fand ihn wunderbar, auch wenn er keinen Kühlschrank kaufte”, bemerkte er. Haushaltswaren zu verkaufen war definitiv nicht sein Ding und so wurde er schon bald bei “Sun Records” vorstellig: “Mr. Phillips, wenn Sie mich anhören, werden Sie es nicht bereuen.” “Nun, einen Jungen mit Selbstvertrauen höre ich mir gerne an”, antwortete Phillips. Er machte Cash aber klar, dass Gospel und Country für “Sun Records” nicht interessant seien.
Im Studio sang Cash verschiedene Songs vor, unter anderem “Hey Porter”, mit dem er Phillips schliesslich überzeugte. Im September 1954 spielte Cash mit den Tennesse Two den Song ein. Die B-Seite der Single war “Cry! Cry! Cry!”. Im September 1955 wurde diese erste Sun-Single von Johnny Cash veröffentlicht. Es folgte mit “Folsom Prison Blues” eine weitere Single und bereits im Mai 1956 stand Cash mit “I Walk the Line” auf Platz 1 der Country-Charts.
Mit Elvis Presley und Johnny Cash können die beiden Seiten des Rockabilly gut umschrieben werden: Elvis verkörpert den “Rock’n’Roll“. Der Rhythm & Blues ist im Blut, die Songs haben Tempo, das Tanzbein schwingt immer und ungefragt mit. Johnny Cash hingegen verkörpert die Country-Seite des Rockabilly. Der “Boom-Chicka-Boom“-Rhythmus und der stampfende, aber gemächliche Bass sind Kennzeichen seines Stils, verbunden mit seiner unverkennbaren Bassbaritonstimme. Blues spielt ebenfalls eine grosse Rolle in seinen Songs. Im Gegensatz zu Elvis Presley zielte Cash aber selten auf Tempo. Das Rhythmische, Pulsierende, Tanzende des Rock’n’Rolls sagte ihm nicht zu. Cash hatte immer einen Hang zum Country, und dies blieb zeitlebens so.

Standen alle bei Sun Records unter Vertrag (v.l.n.r.): Jerry Lee Lewis, Carl Perkins, Elvis Presley, Johnny Cash
Carl Perkins: Ein Cadillac als Geschenk
Nach dem typischen Rockabilly-Sound bzw. -Vertreter der frühen Jahre gefragt, würden wohl viele Carl Perkins nennen. Auch er stand bei Sun Records unter Vertrag. Wie Cash war Perkins stark von der Country-Musik geprägt, doch Perkins mischte sehr grosszügig Rhythm and Blues dazu. Er setzte auf Tempo und Rhythmus und nutzte dafür einen Schlagzeuger, was damals noch unüblich war. Die Musik müsse „tanzbar“ sein, so Perkins. Mit dem 1956 veröffentlichten Song “Blue Suede Shoes“ – ein echtes Rockabilly-Juwel – landete Perkins den bis dahin grössten Hit in der Sun-Records-Geschichte. Die Platte war der erste Millionenseller von Phillips. Zum Dank schenkte Phillips seinem Star einen Cadillac. Das ist Rock’n’Roll.
Rockabilly und Rock’n’Roll
Mit Roy Orbison und Jerry Lee Lewis stiessen zwei weitere erfolgreiche Rockabilly-Musiker zu Sun Records. Vor allem Jerry Lee Lewis sorgte für weitere Millionenseller des Sun-Labels. Doch die eigentliche Blütezeit des Rockabilly war kurz. Der grosse Hit “Great Balls of Fire” von Jerry Lee Lewis aus dem Jahr 1957 ist beispielsweise bereits mehr Rock’n’Roll als Rockabilly. Die Tendenz zeigte mehr und mehr in Richtung Rock’n’Roll. Hinzu kam, dass Sun Records seine grossen Stars nicht halten konnte. Elvis Presley wechselte 1955 zu RCA-Records und setzte voll auf Rock’n’Roll, Johnny Cash ging 1958 zu Columbio-Records. Dennoch: Rockabilly ist weit mehr als eine Übergangsphase zum Rock’n’Roll. Dies beweist alleine schon das bis heute bestehende und sogar wachsende Interesse am Rockabilly.
Text: Silvan Lipp
Aus Vintage Times 1/2015
Bildnachweise:
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